Inklusion 15. September 2023

„Seien Sie laut!“

… denn es geht um die Zukunft unserer Kinder!“ Mit diesen aufrüttelnden Worten wandte sich die Bundestagsabgeordnete Nina Stahr (B90/Die Grünen) auf dem FRÖBEL-Fachtag zum Umgang mit von Armut betroffenen Familien an FRÖBEL-Fachkräfte.

Nina Stahr, MdB und bildungspolitische Sprecherin B‘90/Die Grünen-Bundestagsfraktion.Foto: FRÖBEL e.V./Bettina Straub
Grafische Zusammenfassung des Tages des Künstlers Prime One
Veranstaltungsort war der großen Hörsaal der Fachhochschule in Potsdam. Foto: FRÖBEL e.V./Bettina Straub

Rund 120 Fachkräfte aus FRÖBEL-Kindergärten, Horten, Eltern- und Familienberatungsstellen, der Integrationshilfe sowie der Kita-Sozialarbeit waren zum fachlichen Austausch in der Potsdamer Fachhochschule gekommen. Wie erkennen wir, wenn Familien von Armut betroffen sind? Welche Strategien haben wir als Fachkräfte und als soziale Organisationen, um diese Familien zu erreichen und sie darin zu unterstützen, dass auch ihre Kinder gleiche Chancen auf Teilhabe in unserer Gesellschaft haben? Diese und weitere Fragen standen im Mittelpunkt des praxisorientierten Tages. Mit Bildungs- und Teilhabequoten in Kitas von punktuell bis zu 70 Prozent sind Fachkräfte bei FRÖBEL ganz besonders herausgefordert, einen partizipativen Kita-Alltag zu gestalten.

Eröffnet wurde der Fachtag von FRÖBEL-Geschäftsführer Stefan Spieker: „Wir wollen in Kitas das Fundament dafür legen, dass alle Kinder an der Gesellschaft teilhaben können. Zentral ist für uns dabei die Erlangung von Sprachkompetenzen – und das vor dem Schuleintritt - ohne die keine Bildung stattfinden kann. In der Bildung sehen wir zugleich den stärksten Hebel, um gar nicht erst in Armut zu geraten. Daher ist es unsere wichtigste Aufgabe als Kitaträger, hier wirksam zu werden.“

Die Potsdamer Beigeordnete Brigitte Meier verwies in ihrem eröffnenden Grußwort auf den Armutsbericht für die Stadt Potsdam. Sie betonte die Bedeutung dieses Instruments für die Städteplanung. Die Bildungsinfrastruktur zu stärken, sei einer der wichtigsten Hebel für die Bekämpfung von Armut, so Meier. Zur Debatte um die Kindergrundsicherung sprach sich Meier dafür aus, dass Kinder materielle Unterstützung genauso erhalten sollen, wie auch Bildungsangebote wie zum Beispiel den verlässlichen Ganztag.

In einem engagierten Impulsvortrag sprach Prof. Dr. Christoph Butterwegge von der Universität Köln über die gesellschaftlichen Folgen von Kinderarmut. Butterwegge, der als der renommierteste Forscher zu Kinderarmut in Deutschland gilt, identifiziert die seit Jahren wachsende sozioökonomische Ungleichheit in unserer Gesellschaft als Hauptursache für aktuelle gesellschaftliche Spannungen und Konflikte. Armut vererbe sich sozial, so Butterwegge. Kinder seien arm, weil ihre Familien arm sind.

Die Ungleichheit der Lebensverhältnisse können Fachkräfte in Kitas nicht beeinflussen. Den Umgang damit allerdings schon, so Butterwegge. Entscheidend sei dafür, bereits in der Kita für Armut zu sensibilisieren. Dazu gehöre ein vorurteilsfreies Hinschauen und das Reflektieren der eigenen Vorurteile auf Seiten der Fachkräfte. Die größte Chance läge aber darin, Kinder früh für einen solidarischen Umgang miteinander zu motivieren.

Bildungschancen stärken, aber wie?

In der anschließenden Podiumsdiskussion ging es besonders um die Rolle von Kommunen und Politikverantwortlichen bei der Bekämpfung von Armut. Nina Stahr, bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, betonte, wie wichtig die passende Förderung von Familien sei. Die finanzielle Basis sei ein wichtiges Kriterium dafür, inwieweit Eltern ihre Kinder auf ihrem Bildungsweg unterstützen können. Die Kindergrundsicherung sei daher ein wichtiges politisches Instrument für die Armutsbekämpfung. Aber nicht nur.

Annette Berg von der Stiftung SPI, selbst jahrelang tätig in der Kommunalpolitik von Monheim am Rhein, Essen und Gelsenkirchen, berichtete aus ihrer Erfahrung mit der Schaffung städtischer Strukturen für armutsbelastete Stadtteile. Gerade bei den kommunalen Verantwortlichen müsse ein armutssensibler Blick eingefordert und immer wieder eingeübt werden. Mit Blick auf Deutschland brauche es im Grunde eine armutssensible Bundespolitik, so Berg.

FRÖBEL-Geschäftsführer Stefan Spieker zeigte auf, welchen Handlungsspielraum er für Kindertageseinrichtungen sieht. Das System Schule komme mit individuellen Anforderungen vieler Kinder, die die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen, längst nicht mehr klar. Hier läge die große Chance und Aufgabe von Kitas, so Spieker. Allerdings mangele es in vielen Bundesländern und Kommunen an der Unterstützung durch die Politik für die weitere Schaffung von Kitaplätzen, gerade in armutsbelasteten Stadtteilen. Somit blieben die Familien unerreichbar für die Angebote von Kindertageseinrichtungen.

Christoph Butterwegge wies auf die aus seiner Sicht falschen Schwerpunkte der Haushaltsplanung der Politik hin. Wenn Armut oder die Angst vor dem Verlust des sozialen Status, wie derzeit, in die Mitte der Gesellschaft vordrängen und Parteien nicht mehr glaubwürdig agierten, verstärke dies die Spannungen innerhalb der Gesellschaft, von denen vornehmlich radikale Parteien profitierten. Er sprach sich zudem dagegen aus, Bildung als Allheilmittel gegen Armut zu betrachten. Mit dieser Haltung würde ein Problem individualisiert, das nur politisch und gesellschaftlich gelöst werden könne.

Befragt nach den tatsächlichen Möglichkeiten für Fachkräfte, Armut und deren Folgen zu begegnen, waren sich die Diskutierenden über die Schlüsselrolle von Kitas einig. Mit unterstützenden Angeboten für Familien, einer guten individuellen Förderung von Kindern, die sich an den Stärken orientiert und der Verzahnung vieler niedrigschwelliger Angebote können Kitas einen großen Beitrag leisten, allen Kindern gleiche Chancen zu ermöglichen.

Fachlicher Austausch in Workshops

In anschließenden Workshops tauschten sich die Fachkräfte zu verschiedenen Aspekten der Arbeit in Kitas aus, darunter der Einsatz von Kita-Sozialarbeit, den Nutzen von Ernährungsbildung und die Vernetzung im Sozialraum.

Den zweiten Teil des Tages eröffnete Prof. Dr. Tanja Salem von der Fachhochschule Potsdam mit einem Impuls zur Rolle von Kitaleitungen für die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit. Zahlreiche Studien belegen die große Bedeutung, die Leitungsarbeit für die Wirkung von Kindertageseinrichtungen hat.

Durchaus kritisch zu sehen sei der Blick von Fachkräften auf arme Menschen. Dieser sei häufig geprägt von Normvorstellungen von Familie und Elternschaft, die sich an der bildungsbürgerlichen Mittelschicht ausrichten und an denen sich auch die pädagogische Arbeit orientiere, so Salem. Hier sei eine selbstkritische und reflektierende Haltung von Leitung und Fachkräften entscheidend, um Ausgrenzung und Stigmatisierung vorzubeugen. Denn, auch das belegten zahlreiche Studien, auch Eltern sähen sich als Expertinnen für ihre Kinder und würden so Abwertungen in der Kita erfahren.

Trotz allem gäbe es Handlungsspielraum für Fachkräfte. Entscheidend seien dafür Wissen über Armut, Erfahrung darin, wie man von Armut betroffene Familien ansprechen kann und eine sensible Haltung.

Einblick in die Praxis

In einer abschließenden Diskussionsrunde gaben Fachleute aus Nordrhein-Westfalen, Leipzig und der Fröbel-Zentrale Einblick in die Praxis von Familienzentren und Kita-Sozialarbeit. Entscheidend für die Wirkung seien Mut und ein offener Blick für die Situation von Familien. Dafür brauche es fachliche Unterstützung und schnelle, unbürokratische Lösungen für personelle Lücken, zum Beispiel durch Quereinsteiger, so das Fazit der Runde.