Aktuelles · Inklusion 31. März 2022 · HO

Inklusion: "Die Kinder nicht zu sehr behüten"

Inklusion umzusetzen ist auch Aufgabe von Kitas - wie kann das gut gelingen? FRÖBEL-Fachberaterin Theresa Rohrmaier gibt Praxistipps am Beispiel von Kindern mit Sehbeeinträchtigungen.

Noch sind Kinder mit Sehbeeinträchtigungen in FRÖBEL-Einrichtungen eher die Ausnahme – das soll sich ändern. Theresa Rohrmaier unterstützt die FRÖBEL-Kindergärten und Familienzentren in Nordrhein-Westfalen als Fachberaterin für Inklusion und Diversität dabei, sich auf die Aufnahme von Kindern mit Sinnesbeeinträchtigungen besser vorzubereiten. Im Interview mit ihr zeigt sich: Das ist weniger kompliziert als gedacht.

Frau Rohrmaier, Sie arbeiten seit Januar als Fachberaterin für Inklusion und Diversität bei FRÖBEL in NRW. Was ist konkret Ihre Aufgabe?

Meine Aufgabe ist es, die FRÖBEL-Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen bei der Umsetzung von Inklusion und Barrierefreiheit zu beraten und zu unterstützen. Unser gemeinsames Ziel ist, dass jedes Kind, ob mit oder ohne – egal welche – Beeinträchtigung in jeder Einrichtung gut aufgehoben ist und sich frei bewegen kann. Ich unterstütze die Einrichtungen dabei, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Es sollen noch deutlich mehr Kinder mit Beeinträchtigungen gemeinsam mit anderen Kindern bei FRÖBEL spielen, lernen und sich frei entwickeln dürfen.

Barrierefreiheit ist ein extrem umfangreiches Thema, aber eben eine Voraussetzung für Inklusion – was sind aus Ihrer Sicht die dringendsten Herausforderungen?

In baulicher Hinsicht sind die neuen Einrichtungen auf Kinder und Familien mit körperlichen Beeinträchtigungen sehr gut vorbereitet. Die älteren Kitas sind allerdings häufig sehr verwinkelt, haben viele Treppenaufgänge, das ist für manche Familien sicherlich eher abschreckend. Schwierig ist auch eine barrierefreie Gestaltung von Außengeländen – sie sollen naturnah sein, aber trotzdem sicher und gut zugänglich.
Allerdings geht es nicht nur um den Abbau baulicher Barrieren – man kann und muss sehr viel mehr tun. Wichtig ist eine offene Haltung im Team und, z.B. im Umgang mit Kindern mit Sehbeeinträchtigung, bestimmte kommunikative Kompetenzen, die man in Fortbildungen lernen kann. Dazu arbeite ich mit dem Team Personalentwicklung zusammen.

Gemeinsam mit FRÖBEL-Bereichsleiter Marek Körner und Fachberaterin Jenny Kurth aus Köln haben Sie einen Leitfaden für Kitas entwickelt, der helfen soll, Barrieren für sehbeeinträchtigte Kinder und Familien abzubauen. Welchen besonderen Herausforderungen sind Kindern mit Sehbeeinträchtigungen denn im Kita-Alltag ausgesetzt?

Am schwierigsten ist es für diese Kinder am Anfang natürlich, sich in einem neuen Gebäude zu orientieren. Dabei können wir sie gut mit dem bereits in vielen Kitas installierten taktilen Leitsystem, das wir in unserem Leitfaden beschreiben, unterstützen. Dann müssen sie Flexibilität lernen – zuhause haben Dinge vermutlich ihren festen Platz, in der Kita kann das Kind sich darauf nicht verlassen. Außerdem muss es viele verschiedene Stimmen auseinanderhalten und lokalisieren.

Das klingt sehr anstrengend für das Kind – und auch nicht ungefährlich, schließlich sieht es im Weg herumliegende Gegenstände kaum oder gar nicht…

Das stimmt. Verbale Hinweise helfen sehbeeinträchtigten Kindern sehr, sich zu orientieren. Allerdings plädiere ich – auch aus eigener Erfahrung als mittlerweile nicht mehr sehende Person – stark dafür, die Kinder nicht zu „helicoptern“, also nicht zu sehr zu behüten. Sie müssen ihre eigenen Erfahrungen machen dürfen und notfalls eben auch einmal irgendwo gegen laufen.
Die Welt ist in erster Linie für die Mehrheit der sehenden Menschen eingerichtet, also müssen sehbeeinträchtigte Kinder schon früh lernen, sich darin zurecht zu finden. Schließlich wollen die meisten ganz normal gemeinsam mit sehenden Kindern zur Schule gehen, arbeiten und vielleicht ja auch studieren. Also, bitte nicht die Kitas mit Gummimatten auslegen! (lacht)

Im Leitfaden geht neben baulichen Leitsystemen oder Sprachbuttons auch sehr viel um die pädagogische Haltung, und Sie geben Handlungsempfehlungen. Was muss eine pädagogische Fachkraft denn wissen oder können, um ein Kind mit Sehbeeinträchtigung bestmöglich zu unterstützen?

Eine pädagogische Fachkraft sollte – das ist eigentlich selbstverständlich im Beruf – sensibel, empathisch und achtsam sein. Die sprachliche Begleitung alltäglicher Vorgänge ist für sehbeeinträchtigte Kinder – auch Erwachsene – sehr wichtig. Dabei helfen schon Kleinigkeiten, z.B. ein hereinkommendes Kind mit dem Vornamen zu begrüßen, dann weiß das Kind: „Ah, meine Freundin Lisa ist gerade hereingekommen.“ 
Gerade wenn es um die Körperhygiene oder das An- und Ausziehen geht, muss jede Handlung angekündigt und beschrieben werden – so kann man sich auch gleich versichern, ob das Kind einverstanden ist. So sollte natürlich auch mit sehenden Kindern umgegangen werden. Außerdem sind Ordnung und Struktur sehr wichtig. Ich empfehle jedem Mal einen Besuch in einem Dunkelrestaurant, um das Einfühlungsvermögen zu schulen, danach finden die meisten Ordnung gar nicht mehr spießig! 
Aber am wichtigsten sind tatsächlich eine offene Haltung und Harmonie im Team. Nur wenn alle an einem Strang ziehen, offen und zugewandt kommunizieren, kann eine Kita ein diskriminierungsfreier, inklusiver Ort für alle Kinder und Familien sein.

Gibt es klassische Fehler, die man als Fachkraft vermeiden sollte?

Natürlich, man darf das betreffende Kind nicht diskriminieren, z.B. indem man vom „I-Kind“ spricht. Übrigens sollte ein Kind auch nicht positiv diskriminiert werden, indem man es beispielsweise von Pflichten entbindet. Kinder mit Beeinträchtigungen dürfen und sollen selbstverständlich all die Dinge mitmachen, die andere Kinder auch tun, dazu gehört auch den Tisch abzuräumen.

Nochmal zum Leitsystem: Wie reagieren sehende Kinder denn auf die Neuerung? Profitieren sie ebenfalls davon?

Ja, wir können beobachten, dass ein Leitsystem auch sehenden Kindern hilft, sich besser zu orientieren, Räume zu finden. Manche bauen die Applikationen auf dem Boden in ihr Spiel ein, nutzen sie z.B. als Straße oder Schienen für Fahrzeuge. Und natürlich sprechen die pädagogischen Fachkräfte mit allen Kindern darüber, denn es ist etwas Ungewöhnliches, das sie von zuhause nicht kennen.

Was werden die nächsten Schritte sein?

Wir haben uns jetzt zunächst mit unterstützenden Maßnahmen für sehbeeinträchtigte Kinder und Familien beschäftigt. Ich möchte gerne auch spezifische Leitfäden für andere Formen von Behinderung – körperlicher oder kognitiver Beeinträchtigung – entwickeln, um die Leitungen und Teams ganzheitlich auf ihrem Weg zur Inklusion unterstützen zu können.
 

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Theresa Rohrmeier (Foto: privat)

Zur Person

Theresa Rohrmaier ist seit Januar 2022 als Fachberaterin für Inklusion und Diversität bei Fröbel in NRW. Zuvor unterstützte sie Fröbel bereits als Expertin im Projekt „Inklusion und Diversität in Fröbel-Kindergärten - sehbehinderte und blinde Kinder“. Sie hat einen Masterabschluss in Erziehungs- und Bildungswissenschaften und arbeitet zusätzlich als Dozentin an der Fachschule für Sozialwesen IWK Köln.

Leitfaden: "Inklusion von Kindern mit Sehbeeinträchtigungen"